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Kants Theorie der Wahrheit (5.12.2017)

Kant bemerkt in der B-Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft kritisch, dass eine bloße Kohärenztheorie der Wahrheit nicht ausreichend ist: „[O]bgleich eine Erkenntniß der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d.i. sich selbst nicht widerspräche: so kann sie doch noch immer dem Gegenstande widersprechen.“ Kant bezeichnet den Versuch, allein durch eine Prüfung der Kohärenz Wahrheit zu erlangen, als eine „scheinbare“ oder „sophistische Kunst“ bzw. als ein „vermeintes Organon“ oder auch als „Dialektik“. Die Dialektik oder auch Logik ist eine der sieben „freien Künste“, die im Mittelalter zunächst erlernt werden mussten, bevor eines der drei Hauptfächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin studiert werden konnte. In Kants Kritik der reinen Vernunft hat der Systemteil der „transzendentalen Dialektik“ die Aufgabe, unsere Vernunft zu kritisieren und in Schranken zu weisen, sofern sie allein aus apriorisch-logischen Erwägungen heraus zu Erkenntnissen gelangen möchte (etwa durch einen ontologischen Gottesbeweis). Kant fragt deswegen nicht so sehr nach der Definition der Wahrheit, als vielmehr nach einem „sicheren, allgemeinen und in der Anwendung brauchbaren Kriterium der Wahrheit“. Während es ein allgemeines formales Kriterium der Wahrheit gibt – nämlich die Widerspruchsfreiheit einer Theorie, gemäß der Logik oder Dialektik – gibt es ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit nicht. Wahrheit braucht nämlich neben der formalen Widerspruchsfreiheit immer ein materiales Moment der individuellen Konkretion, die auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Ich erkenne immer Konkretes, auf das sich mein Urteil bezieht, im Kontext des logischen Raumes. Kant versteht unter den formalen Kriterien der Wahrheit genauer (i) den Satz des Widerspruchs und der Identität; (ii) den Satz des zureichenden Grundes und (iii) den Satz des ausschließenden Dritten. Der erste Satz stellt sicher, dass sich eine Theorie nicht widerspricht. Der zweite Satz stellt den logischen Folgerungs- und Ableitungszusammenhang einer Theorie mit anderen Theorien sicher. Der dritte Satz stellt sicher, dass das Urteil eindeutig ist und nur zwei mögliche Wahrheitswerte annehmen kann (wahr und falsch), was wiederum die Bedingung für (i) ist. In diesem Zusammenhang kommt Kant auch auf das Phänomen des Irrtums zu sprechen. Denn jede umfassende Wahrheitstheorie muss auch Aussagen darüber machen, inwiefern ein Urteil falsch sein kann. Kant vertritt die Auffassung, dass nur Urteile wahr und falsch sein können. Wir irren uns nach Kant niemals sehenden Auges, sondern immer im Modus der Täuschung, des irrigen für-wahr-Haltens, indem ein Subjekt „Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechselt“. Kant macht dabei deutlich, dass es sehr leicht ist, Wahrheit zu beschreiben, dagegen ungemein schwierig, die Falschheit durch eine Operation des Verstandes zu bestimmen – ganz ähnlich, wie es leicht ist, das moralisch Gute über die Aktivität des Willens zu definieren, hingegen problematisch, einen bösen Willen zu begreifen, denn auch hier stellt sich die Frage, wie der Wille das Böse ‚sehenden Auges‘ wollen kann. Es ist nach Kant insofern „überhaupt nicht zu begreifen […], wie irgend eine Kraft von ihren eigenen wesentlichen Gesetzen abweichen solle.“ Denn die Verstandesgesetze können nicht der Grund des Irrtums sein, und auch nicht die Schranken des Verstandes (seine Grenzen), da sie nur für die Unwissenheit verantwortlich sind. Wären wir reine Verstandeswesen, so würden wir uns nach Kant nie irren, denn der Verstand wäre nur auf sich selbst in seiner Operationsweise bezogen, würde den ganzen logischen Raum erfüllen. Kant führt den Irrtum deshalb auf eine andere Erkenntniskraft und Erkenntnisquelle neben dem Verstand zurück, die er die Sinnlichkeit nennt und der er eigene Gesetze zuschreibt. Während der Verstand die Form der Erkenntnis liefert, liefert die Sinnlichkeit den Stoff derselben. Aus der Sinnlichkeit allein kann der Irrtum ebenfalls nicht entspringen, da Sinnlichkeit nach Kant keine propositionale Struktur besitzt. Irrtum muss also im Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand seinen Grund haben: „Der Entstehungsgrund alles Irrthums wird daher einzig und allein in dem unvermerkten Einflusse der Sinnlichkeit auf den Verstand, oder genauer zu reden, auf das Urtheil, gesucht werden müssen. Dieser Einfluß nämlich macht, daß wir im Urtheilen bloß subjective Gründe für objective halten und folglich den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln. Denn darin besteht eben das Wesen des Scheins, der um deswillen als ein Grund anzusehen ist, eine falsche Erkenntniß für wahr zu halten.Was den Irrthum möglich macht, ist also der Schein, nach welchem im Urtheile das bloß Subjective mit dem Objectiven verwechselt wird.“ Allerdings stellt sich hier die Frage, inwiefern der Verstand selbst Grund des Irrtums im Verwechseln sein kann. Kant beantwortet dies durch die fehlende Konzentration des Verstandes: „In gewissem Sinne kann man wohl den Verstand auch zum Urheber der Irrthümer machen, sofern er | nämlich aus Mangel an erforderlicher Aufmerksamkeit auf jenen Einfluß der Sinnlichkeit sich durch den hieraus entsprungenen Schein verleiten läßt, bloß subjective Bestimmungsgründe des Urtheils für objective zu halten, oder das, was nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit wahr ist, für wahr nach seinen eigenen Gesetzen gelten zu lassen.“ Verantwortlich für den Irrtum ist damit in letzter Hinsicht das freie Subjekt, welches seinen Verstand gebraucht: „Nur die Schuld der Unwissenheit liegt demnach in den Schranken des Verstandes, die Schuld des Irrthums haben wir uns selbst beizumessen. Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt, sie läßt uns über so Manches in einer unvermeidlichen Unwissenheit, aber den Irrthum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urtheilen und zu entscheiden, auch da, wo wir wegen unsrer Begrenztheit zu urtheilen und zu entscheiden nicht vermögend sind.“ Kant bemerkt aber, dass in jedem falschen Urteil immer etwas Wahres liegen muss: „[E]in totaler Irrthum wäre ein gänzlicher Widerstreit wider die Gesetze des Verstandes und der Vernunft.“ Die Struktur des Urteilens, das Synthetisieren von Subjekt und Prädikat durch unseren Verstand, ist bereits eine logische Leistung, die in sich Spuren der Wahrheit besitzt, insofern darin eine Korrespondenzrelation beabsichtigt ist. Die Aufgabe besteht deswegen darin, die Quelle des möglichen Scheins unserer Irrtümer aufzusuchen. Dieses Projekt bezeichnet Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft als „transzendentale Dialektik“, als Logik des Scheins. Jemand, der im Modus des Scheins als Getäuschter falsche Urteile äußert, unterliegt nach Kant dem Irrtum. Wer jedoch trotz Aufdeckung des Scheins weiterhin bei seinem Urteil bleibt und darauf beharrt, den nennt Kant „abgeschmackt“ – man könnte in heutiger Terminologie euphemistisch auch sagen „beratungsresistent“. Kant führt nun formale ähnlich wie Descartes, aber inhaltlich doch verschieden, drei Regeln auf, die uns in unserem Gebrauch des Verstandes vom Irrtum abhalten können: „1) selbst zu denken, 2) sich in der Stelle eines Andern zu denken, und 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Die Maxime des Selbstdenkens kann man die aufgeklärte; die Maxime sich in Anderer Gesichtspunkte im Denken zu versetzen, die erweiterte; und die Maxime, jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken, die consequente oder bündige Denkart nennen.“ Es geht also darum, dass man in seinem Urteil sowohl in sich kohärent ist, als auch in ein innersubjektives Gespräch eintritt, sich selbst kritisch von Außen betrachtet.


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